Plage des pas perdus Topographische Anmerkungen zu Dünkirchen

Kultur

„Glaubt mir, uns war, als sähen wir das uralte Chaos, das Feuer, Luft, Meer, Erde in widerträchtiger Verwirrung aller Elemente barg.“ Rabelais

Englische Soldaten warten am Strand von Dünkirchen auf ihre Evakuierung, Juni 1940.
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Englische Soldaten warten am Strand von Dünkirchen auf ihre Evakuierung, Juni 1940. Foto: Unknown (PD)

2. August 2017
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Allein der Name hat die volle Durchschlagskraft: Dünkirchen – düster und schicksalsschwer lastet die Geschichte auf ihm. Aber nicht erst im historischen Rückblick löst er blutige Vorstellungen aus. Schon damals, während des Krieges, ist der Name Sinnbild für Tod und Verderben. „Where are we going?“, fragt ein englischer Soldat in einer Szene. – „Dunkirk“. – „Iʼm not going back. If we go there, we will die.“

Der Ort. Dieser öde und wüste Ort. Dieses triste, trostlose, nicht enden wollende Gestade. Ein Wüsteney, hätte man früher gesagt, ein locus terribilis.[1]

Seit The Beach habe ich lange Zeit keinen Strand mehr als Handlungszentrum im Kino gesehen. Und keinen Ort, der so furchtbar real ist, der so wenig zum Träumen anregt wie der Plage de Malo-les-Bains.

Kurt Lewin hat beschrieben, wie sich eine Umgebung unter den Bedingungen des Krieges verändert. Die Landschaft, die sich in Friedenszeiten nach allen Richtungen gleicherweise ins Unendliche ausdehnt, scheint zur Front hin auf einmal begrenzt. Sie kennt nun „ein Vorn und Hinten, und zwar ein Vorn und Hinten, das nicht auf den Marschierenden bezogen ist, sondern der Gegend selbst fest zukommt. Es handelt sich auch nicht etwa um das Bewusstsein der nach vorn wachsenden Gefährdung und der schliesslichen Unzugänglichkeit, sondern um eine Veränderung der Landschaft selbst. Die Gegend scheint da ,vorneʻ ein Ende zu haben, dem ein ,Nichtsʻ folgt.“

Die Handlung bestimmt den Ort, aber der Ort auch die Handlung. Der Strand von Malo-les-Bains ist Sackgasse und Fluchtweg zugleich. Vom Inland rücken die deutschen Panzerverbände vor; die Soldaten sind eingekesselt. Alle Blicke sind auf das Meer gerichtet (einer meint gar, von hier aus die Heimat zu sehen).

„Im Ausschauen öffnet sich der Raum, und wenn man von der Erwartung sagen kann, dass sie ,aussichtsreichʻ sei, so kann das ganz konkret im räumlichen Sinne verstanden werden. Sofern in der Erwartung ein Warten enthalten ist, besteht die Kehrseite solcher Räumlichkeit freilich darin, dass sie nur erfahren wird, um überbrückt zu werden. Der sich zum Ziel hin ausspannende Raum ist somit nur Transitraum und, bezogen auf die Wartezeit, blosser Warteraum, Provisorium (im wörtlichen Sinne des Begriffs). Vollends ein um die Erwartung reduziertes, ziel- und ,aussichtslosesʻ Warten macht den Ort des Wartens zu einem indefinitiven Aufenthalt, der anmutet wie ein Irgendwo im Niemandsland. […]. Ohne klare Kontur hat solcher Ort andererseits den Charakter der unbegrenzten Leere, und man kann sich in ihm ebenso verloren wie eingeschlossen fühlen. Abgesondert sowohl vom Hier des Gegenwärtigen wie dem Dort des Künftigen verharrt man in einem Zwischenstadium, das sich bei anhaltender Dauer zu der existentiellen Erfahrung auswachsen kann, einerseits nicht mehr am Leben, andererseits noch nicht tot zu sein.“ (Lothar Pikulik)

Auf das Warten folgen die Angriffe der deutschen Luftwaffe, jähe Wechsel von Stumpfsinn zu Todesangst. Die Schlacht von Dünkirchen wird, wie Christopher Nolan erläutert, aus drei Perspektiven erzählt: „In der Luft (Flugzeuge), zu Land (am Strand) und zu Wasser (die Evakuierung der Navy).“ Wie sich die drei Elemente dabei gegenseitig durchdringen, hat der Regisseur auf 70-mm-Projektionen genauso grandios wie verstörend in Szene gesetzt. Die Mittel der Filmkunst dienen nur einem einzigen Zweck: die Distanz zum Geschehen aufzubrechen.

„Der Abyssos der Materie, in den Mensch und Menschenwerk hineingerissen werden, ist der absolute Gegensatz zur Kultur. Der Raum löst sich auf. Schaumkronen, fliegende Gischt suggerieren die Geschwindigkeit der Wasserbewegung, übertroffen nur vom Sturm, der von den Wellenkämmen Wasserfetzen hinweg reisst, als wolle er Luft und Wasser vermählen. In diesem hieros gamos der Elemente wird nicht eine Weltordnung kreiert, sondern das Chaos vor der Schöpfung kehrt zurück. Dies ist eine Welt ohne Platz für den Menschen.“ – So kommentiert Hartmut Böhme ein Gemälde von Iwan Aiwazowski, einem russischen Marinemaler aus dem 19. Jahrhundert, das den Titel Die neunte Welle trägt. Der Kommentar hätte genauso gut zu Dünkirchen gepasst.

Die katastrophischen Bilder lassen sich von „der Apokalypse-Manie des gegenwärtigen Kinos“ (Eva Horn) anstecken, sind jedoch nicht zufällig gewählt: Sie markieren zugleich eine Umkehr.[2]

Am 24. Mai 1940 stoppte Hitler den Vormarsch der deutschen Truppen in Nordostfrankreich. Dieser berühmt gewordene „Halt-Befehl“ ermöglichte das „Wunder von Dünkirchen“: Er verschaffte der britischen Regierung die notwendige Zeit, um die bislang grösste Evakuierung der Geschichte zu organisieren. Mehr als 340.000 britische und französische Soldaten konnten bis zum 3. Juni über den Kanal entkommen, fast ein Drittel davon über die Strände. „Ohne Hitlers Intervention wäre es zur grössten Katastrophe der Geschichte Grossbritanniens gekommen“, so Karl-Heinz Frieser. „Es hätte fast die gesamte Berufsarmee verloren. Dies hätte wohl auch das Ende der Regierung Churchill bedeutet. Eine neue Regierung aber hätte ein generöses Friedensangebot des anglophilen Hitler kaum zurückweisen können. Wie die Weltgeschichte dann verlaufen wäre, wenn das Deutsche Reich sämtliche Kräfte gegen die Sowjetunion hätte konzentrieren können, ist eine fatale Frage.“

Auch Christopher Nolan folgt dieser Deutungslinie. Ohne die Operation Dynamo wäre die Welt „verloren gewesen, oder hätte zumindest einem unbekannten Schicksal entgegengeblickt. Die Deutschen hätten Europa ohne Zweifel erobert, die Vereinigten Staaten wären nicht in den Krieg eingetreten. Dies wäre ein Wendepunkt des Krieges geworden und ebenso einer in der Weltgeschichte.“

Bemerkenswert, dass beide, Karl-Heinz Frieser wie Christopher Nolan, den Begriff der Katastrophe ins Gegenteil seiner ursprünglichen Bedeutung kehren: Die Kontinuität selbst, die Tatsache, dass sich die Gegenwart immer weiter in die Zukunft hinein entrollt, sich fortsetzt und unaufhaltsam steigert – gerade das ist das Schreckliche. So ermöglichte es paradoxerweise Hitler selbst, die Katastrophe aufzuhalten.

Kurt Lewin hat nicht nur beschrieben, wie sich eine Friedenslandschaft in eine des Krieges verwandelt, sondern auch deren Rückbildung festgehalten: „Aus der Zone, wo man sich gleichsam ständig geduckt und abwehrbereit verhalten hatte, ist ein Teil jener Strecke Landes geworden, die man nun zu durchziehen haben wird. Ohne dass man eine eigentliche Wandlung erlebt hätte, sind plötzlich an der Stelle der Gefechtsdinge ein Acker, eine Wiese oder dergleichen entstanden, die nun nach allen Seiten landschaftliche Zusammenhänge zeigen zu den Feldern und Wäldern ringsum. An Stelle der durch die Front bestimmten Gerichtetheit haben die Äcker und Feldraine jetzt andere, ihnen an sich eignende Richtungen. Wege, die bis dahin nur ein unbequem festes Stück Untergrund für das Graben waren mit den für die Gefechtszwecke angenehm oder unangenehm gerichteten Seitenfurchen, werden wieder zu richtigen Wegen, zu Verbindungen zwischen Ortschaften, zu Führern und Hilfsmitteln der Vorwärtsbewegung ,über das Land hinʻ oder irgendwelchen Zielen zu.“

Was hier auf der Wahrnehmungsebene geschieht, gilt natürlich auch für den Kriegsschauplatz selbst: Es wächst, wie man sagt, Gras über die Sache – auch wenn Gras gar nicht nötig ist, so sehr wird Wasser und Sand mit Vergessen und Verschwinden assoziiert.[3] Besser scheint die Metapher von Aleida Assmann zu sein: „Wie sich die Oberfläche sofort wieder schliesst, wenn ein Stein ins Wasser gefallen ist, so schliessen sich auch an den Orten die Wunden bald wieder; neues Leben und neue Nutzung lassen bald kaum noch Narben erkennen.“

Der Küstenstreifen von Leffrinckoucke bis Malo-les Bains ist heute vor allem fürs Strandsegeln bekannt; die offizielle Webseite von Nord-Pas de Calais wirbt mit einem hübschen Promenade-Deich und schönen Seebad-Villen.

„Auf ein Gedächtnis der Orte ist ohne flankierende Massnahmen wenig Verlass“, schreibt Assmann. „Es bedarf ungeheurer Anstrengungen, die Lücke, die Leerstelle als Spur der Vernichtung zu bewahren.“

Mit Dünkirchen hat Christopher Nolan diese Spur der Vernichtung wieder in Erinnerung gerufen.

M. A. Sieber

Fussnoten:

[1] In der Antike war das Litoral ein Ort der Trauer und Klage. Sieben Monde hindurch lag Orpheus unter dem Fels, am öden Gestad styrmonischer Wogen, und trauerte um Euridice. Ariadne, von Theseus auf Naxos zurückgelassen, vereinte ihre Tränen mit den tosenden Wellen. Und in allen fünf Bücher der Tristien beschrieb Ovid die unwirtliche Küste des Schwarzen Meeres, um sein Leiden im Exil zu veranschaulichen. Der wüste Ort war eine räumliche Chiffre für die innere Verlassenheit.

[2] Katastrophe bedeutet im wörtlichen Sinne „eine Wendung nach unten“. In mythischen und religiösen Zusammenhängen wurde sie als radikaler Neuanfang infolge furchtbarer Zerstörungen oder gar eines Ende der Geschichte gedacht. Für Theologen ist Katastrophe ein Akt göttlicher Strafe, für Naturwissenschaftler der Einbruch gravierender Naturereignisse und Historiker verwenden das Wort für politische Umwälzungen oder Revolutionen.

[3] „Das flüssige Element verkörperte den Urzustand der Welt. Selbst das Ufer ist vom Menschen kaum zu gestalten; es eignet sich schlecht für den künstlichen Anschein der Unordnung, der den Englischen Garten so überaus reizvoll macht. Vor allem aber bewahrt eine Stätte, die sich keine Gewalt antun lässt, auch keine Spur der menschlichen Geschichte. Wie der Sand und das Wasser sich jedem planmässigen Entwurf entziehen, löschen sie auch jedes Zeichen aus.“ (Alain Corbin)



LITERATUR

Assmann, Aleida: „Das Gedächtnis der Orte“, in: Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 68 (1994) 1.

Böhme, Hartmut: „Postkatastrophische Bewältigungsformen von Flutkatastrophen seit der Antike“, in: Karlheinz Sonntag (Hrsg.): Von Lissabon bis Fukushima – Folgen von Katastrophen. Heidelberg 2013.

Corbin, Alain: Meereslust. Das Abendland und die Entdeckung der Küste 1750–1840. Aus dem Französischen von Grete Osterwald. Berlin 1990.

Horn, Eva: Zukunft als Katastrophe. Frankfurt am Main 2014.

Kellerhoff, Sven Felix: „Dünkirchen – Warum Hitler seinen Siegen verschenkte (Interview mit Karl-Heinz Frieser)“, in: welt.de vom 01.05.2016.

Lewin, Kurt: „Kriegslandschaft“, in: Jörg Dünne/Stephan Günzel (Hrsg.): Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften. Frankfurt am Main 2006.

Pikulik, Lothar: Warten, Erwartung. Eine Lebensform in End- und Übergangszeiten. Göttingen 1997.

Quach, Hi Quan: „Dünkirchen – Christopher Nolan erklärt die komplizierte Erzählstruktur“, in: gamona.de vom 01.03.2017.

Dunkirk

England, USA

2017

-

107 min.

Regie: Christopher Nolan

Drehbuch: Christopher Nolan

Darsteller: Fionn Whitehead, Tom Glynn-Carney, Jack Lowden

Produktion: Emma Thomas, Christopher Nolan

Musik: Hans Zimmer

Kamera: Hoyte van Hoytemabr

Schnitt: Lee Smith